2008/06 – Kalkutta – Zigarren im Monsun
16 Jun
Im Monsun |
Mit Sadhus am Hoogly Fluß |
Juni 2008
Meine verbleibende „Flugzeit” bei Lufthansa neigt sich dem Ende zu, und so versuche ich noch die Ziele anzufliegen die ich nicht kenne oder die mir Spaß machen.
Gerade an dem Tag an dem ich den neuen Verlängerungsvertrag für ein weiteres Jahr bis 2010 erhalte – und mein gewünschtes Modell bekomme : Ein Monat fliegen, ein Monat frei – fliege ich nach Kalkutta.
Wir fliegen erst seit einem Jahr dorthin und es ist es nicht in meiner Area, daher habe ich es mir gewünscht.
Der Ruf der Stadt ist legendär, sowohl positiv wie negativ, es ist geprägt.
Ob Mutter Theresa, City of Joy oder Vorhof zur Hölle, jeder stellt sich etwas unter dieser Stadt vor.
Ich will mich von der Stadt überraschen lassen.
Leider habe ich keine Antwort auf meine mail-Anfrage an einen lokalen Architekten der dort „Walking Tours” zu den historischen Plätzen – Britische Kolonial- wie Hindu Architektur – anbietet.
Ich werde ihn später noch telefonisch erreichen, aber seine Touren beginnen um 08h Ortszeit – definitiv zu früh für mich.
Und so fliege ich am Tag nach unserem SWR TV ANS nach Kalkutta. Alles ganz entspannt und seltsam leer. Ich kenne Indienflüge eigentlich nur wie das Land selbst : überfüllt.
Aber sowohl First wie auch Business Class sind fast leer und nur die Economy ist fast voll.
Total entspannt – man weiss gar nicht wie man sich auf dem langen Flug beschäftigen soll.
Unser A-330 erreicht zum Take Off das MTOW, maximale Startgewicht von 233 Tonnen. Nicht schlecht für ein zweistrahliges Flugzeug. Nicht nur ist der Flug mit 8h35 lang, wir haben auch viel Fracht dabei. Und da der Flug so lang ist, sind für uns Betten eingebaut. Ein sogenannter Crew Rest, der auf B-747 und A-340-600 fest eingebaut ist, hier wird der Container in kurzer Zeit ein- und ausgebaut. Jeder kann sich fast 2h lang ausruhen.
Ein entspannter Flug also und ich freue mich auf eine interessante Destination.
Zuerst aber steht noch die Landung aus, und die ist anspruchsvoll. Es ist sehr „hazy”, also diesig/dunstig, im Endanflug. Die Monsunsaison beginnt gerade.
Wir haben 10 Tonnen extra Sprit dabei, sollte es nötig sein, flögen wir weiter nach Chiang Mai in Thailand, unser Alternate.
Als wir dann landen ist es trocken, wenn man in der Sauna von Trockenheit reden kann. Die Brille beschlägt, alles ist sofort klamm und die 20 Meter im Freien zum Terminal sind schweisstreibend.
Aber hier in West Bengalen ist alles lockerer als im übrigen Indien, weniger bürokratisch, alles geht angenehm fix für Indische Verhältnisse.
Unser Crewhotel, das Hyatt Regency,ist erstklassig, luxuriös und ganz aus dem lokalen Granit und Marmor erbaut. Ich schaue von meinem Zimmer aus auf das Salt Lake Stadium wo letzten Monat Oliver Kahn’s allerletztes Spiel statt fand.
Oliver Kahn’s Farewell Match Billboard |
Lufthansa im Monsun Billboard |
In der Hotelbar gibt es kaltes Kingfischer Bier, leckere Samosas und ein Zigarrenangebot. Also zivilisiert. Was will man mehr ?
Genau, die EM Übertragung, aber auch das ist hier, mit 3h30 Zeitverschiebung möglich.
Am Tag nach unserer Ankunft machen wir eine Stadtrundfahrt. Wir sind 7 Leute inklusive unserer 2 Indischen Kolleginnen die ebenfalls Kalkutta entdecken wollen. Sie kommen aus New Delhi.
Der Himmel ist bereits schwarz und regenschwanger als wir gegen Mittag das Hotel verlassen.
Nach 25 Minuten sind wir in der Stadt. Wir schauen uns die St. Paul’s Kathedrale von 1847 an und dann öffnet der Himmel die Schleusen. Es regnet aus allen Kannen.
Wir fahren dennoch durch die Stadt die Sehenswürdigkeiten ab, allerdings sehen wir diese nur vom Bus aus. Wir stehen im Stau, der überfallartige Regen bringt fast alles zum erliegen.
Monsun |
In einem Coffee Shop der „anderen” Art, einer Ko-Operative der Kaffee Arbeiter, halten wir kurz an, holen uns Samosas.
Coffee Workers Co-Operative Coffee Shop, Calcutta |
West Bengalen ist eine Hochburg der Kommunisten, hier sieht man überall noch Hammer und Sichel Fahnen und Graffittis.
Ich erinnere mich an einen guten Satz : Inder kennen kein Neid – aber auch kein Mitleid.
Wir drehen unsere Runde durch die Stadt, aber wir sehen alles nur vom Bus aus – Schade.
Kalkutta |
Kalkutta |
Ich schwöre mir die Tour noch mal zu machen, notfalls muss ich wieder nach Kalkutta fliegen.
Im noblen Oberoi Hotel geniessen wir teuren Kaffee und Petit Fours.
Ich lasse die Sehenswürdigkeiten noch mal Revue passieren die wir heute „gesehen” haben. Die werde ich mir wieder ansehen, unbedingt. Hier eine kurze Beschreibung der Stadt und der Sehenswürdigkeiten aus unsere Lay-over Info – die Fotos folgen bzw. sind auf dieser Fotogalerie zu sehen.
Kalkutta, Hauptstadt des Staates West Bengalen und drittgrösste Stadt Indiens wurde 1690 als Britischer Handelsposten gegründet und blieb unter der Kontrolle der British East India Company bis 1756. Es avancierte zum wirtschaftlichen und politischen Zentrum bis die Hauptstadtfunktion 1911 an New Delhi überging.
Im Stadtzentrum, rund um Dalhousie Square (jetzt BBD Bagh genannt), liegen die meisten Zeugnisse der Kolonialarchitektur : Silver Mint, Writers Building 1776, General Post Office 1864, Raj Bhavan 1803, Town Hall und Calcutta High Court. Das Writers Building war ursprünglich die Zentrale der British East India Company, hier arbeiteten die „Writers” oder Bürokraten und Buchhalter. Raj Bhavan war das Government House, hier residierte der Generalgouverneur Indiens.
Writer’s Building |
Dalhousie Square ( BBD Bagh) |
General Post Office |
Der Maidan, einer der grössten Parks der Welt, ist das Wahrzeichen Kalkuttas. Hier befinden sich Rennbahn, Cricketplatz und Fort Williams, das 1696 erbaut und nach seiner Zerstörung 1757 wieder aufgebaut wurde.
Im Südosten befindet sich das Queen Victoria Memorial, 1901 von Lord Curzon erdacht, Grundstein 1906 vom späteren King George V gelegt und 1921 eröffnet.
Victoria Memorial Hall |
http://www.victoriamemorial-cal.org/
Nach den 5 Stunden City Tour im Regen gibt es im Hotel ein schönes Büffet. Ich bin danach kaputt, schlafe eine Siesta und schaue mir dann bei Gin Tonic und einer Tatuaje Cojonu 2003 an der Bar das Spiel Portugal-Türkei an. Ich freue mich so über den Sieg Portugals, dass ein Inder aufsteht und mir gratuliert – nette Geste.
Am nächsten Tag bin ich früh wach. Die Sonne scheint. Ausnutzen !
Duschen, einen Kaffee, ein paar cookies und runter zur Lobby. Auto bestellt und ab in die Stadt.
Heute bin ich allein, zu früh für die anderen. Ich habe den Bus für mich allein.
Zuerst fahren wir zum Victoria Memorial Hall, ein imposanter Bau der mir sehr gut gefällt. Was mir nicht so gut gefällt ist die offene Diskriminierung. Inder zahlen 10 Rupien, Ausländer 150. Nicht sehr subtil. Das kenne ich auch von nirgendwo anders.
Auch nicht gerade subtil wie die Wächter mir verbieten in der Halle zu fotografieren. Als der dritte Wächter unwirsch meine ausgeschaltete Kamera moniert, mache ich ihn kurz aber prägnant zur Minna.
Ausländer zahlen das 15-fache |
Weiter geht es dann in die Innenstadt zum Maidan Park. Das ist der grösste Park der Stadt, die grüne Lunge, eine riesige Fläche auf der Cricket gespielt wird oder Fussball, wo die Drachen fliegen, wo Picknicks stattfinden.
Maidan |
Ich fotografiere die alten Britischen Herrschaftsbauten am ehemaligen Dalhousie Square, jetzt DBD Bagh Square genannt. Der Platz und die Strassen sind wirklich schön und sehr gut erhalten.
Vor den jetzigen Regierungsgebäuden darf man nicht halten und es stehen mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten hinter Sandsackbarrikaden.
Hier ist das Herz des Britischen Kalkutta aus den Zeiten des Raj und des Empire.
Und ich habe Glück : kein Verkehr, kaum Autos oder Menschen, alles ruhig.
Heute ist Sonntag, ideal für die City Tour.
Ich gönne mir eine Zigarre im Bus. Und passiere eine Apotheke wo es garantiert keinen ANS gibt …
Hier gibt es kein ANS … |
Vor der Howrah Brücke steige ich an einem kleinen Markt aus. Blumen werden auf dem Boden verkauft, Gewusel, Lärm, hupen, Massen.
Direkt nach der Brücke sehe ich Stufen die zum Fluss führen und Menschen die dort baden.
Unter der Howra Brücke |
Am Hoogly |
Auch hier lasse ich anhalten und laufe hin. Eine grössere Menschenmenge bewegt sich neben dem Fluss und gegenüber ist ein grosser Busbahnhof. Es stinkt bestialisch nach Urin und verrottenden Abfällen.
Ich laufe die Stufen herunter zum Fluss an schlafenden Menschen vorbei, die Luft wird besser.
Am Hoogly |
Am Hoogly |
Am Ufer beobachte die die Menschen beim baden, waschen, schwimmen. Nackte Kinder kommen auf mich zu, erst neugierig, dann mit obszönen Gesten. Ich verscheuche sie. Alle anderen sind freundlich und beobachten wiederum mich neugierig.
Als ich gehen will sehe ich noch wie zwei Sadhus, heilige asketische Männer, vorbeigehen und sich hinunter zum Fluss begeben.
Sadhus |
Sadhus |
Sadhus |
Ich folge ihnen und spüre dass sie müde sind. Sie sind froh am Fluss zu sein und sich ausruhen zu können. Langsam ziehen sie ihre Wickelröcke aus, dann die Turbane. Lange verfilzte Rastalocken kommen zum Vorschein. Sie lassen sich gerne und stoisch fotografieren und sind mir gegenüber sehr sympathisch. Als ich ihnen die Fotos auf den Monitor zeige lächeln sie scheu. Ich bin beeindruckt von der Szenerie. Hier könnte ich stundenlang schlendern und die Menschen beobachten. Aber leider muss ich wieder hoch – ich hatte dem Busfahrer gesagt wann er mich abholen soll.
Aber ich denke ich komme wieder – mit mehr Zeit.
Zurück geht es über die zweite Hugli Brücke. Sie ist moderner und überspannt den Fluss.
Wir fahren ans andere Ende der Stadt, in das Viertel Khaligat. Hier steht der Tempel der Göttin Kali, die Dreiäugige, eine grosse Heiligkeit in Indien. Der Tempel ist an die 350 Jahre alt.
Aus Khaligat leitet sich der Name Kalkuttas ab.
Kali Tempel |
Direkt neben dem Kali Tempel steht das Sterbehaus der Missionaries of Charity, der Orden der 1950 von Mutter Theresa gegründet wurde. Heute gibt es über 640 Zentren, allein 10 davon in Kalkutta.
Hier werden Menschen die oft in erbarmungswürdigem Zustand auf der Strasse gefunden wurden, und dem Tode nahe sind, gepflegt. Nicht alle sterben hier in menschlicher Umgebung einen würdigen Tod, einige verlassen in deutlich verbessertem Zustand wieder das Heim.
Das Stammhaus von Mutter Theresa |
Das Stammhaus |
Leider komme ich gerade zur Mittagspause und kann das Haus nicht besuchen. Ich spende an der Tür, auch hier werde ich wieder kommen.
Bei Mutter Theresa |
Bei Mutter Theresa |
Ich laufe etwas um den Platz und fotografiere die farbenfrohen Menschen, dauernd angesprochen von „Tempelführern” die mich bedrängen den Tempel mit ihnen zu besuchen.
In Khaligat |
In Khaligat |
Am Ende lasse ich mich „verführen” und laufe mit einem der Guides durch die engen Gassen mit.
Dieser erklärt mir alles doppelt und dreifach in einem Redeschwall dass ich irgendwann ignoriere. Touristen sind wohl dumm.
Als erstes muss ich mir die Schuhe ausziehen, was ich angesichts des Drecks ungern tue, aber es muss sein.
Dann werden meine „unreinen” Füsse mit heiligem Ganges Wasser gewaschen.
Weiter geht es durch die engen Gänge zum Tempel. Überall Polizei mit Maschinengewehren. Auch Tempel sind heutzutage nicht friedlich sondern Anschlagsziele.
Hier werden Tieropfer dargebracht, und so ist der Boden blutig und rutschig, obwohl jemand mit einem Wasserschlauch alles abspritzt. Nicht nur aus diesem Grund ist der Besuch des Tempels mit seinen vielfältigen Sinneseindrücken nichts für sensible Gemüter.
Vor einer roten Tür stauen sich die Pilger und Betende, berühren diese, beten, drücken den Tempelwächtern kleine Spenden in die Hand.
Fotografieren ist verboten und auch nicht heimlich möglich. Ich versuche es erst gar nicht.
Nun wird mir die Rückseite des Tempels gezeigt, hier ist es angenehm ruhig. Ein Pool ist angeblich mit Ganges Wasser gefüllt. In der Mitte ist eine Büste des Gottes Shiva, Ehemann von Kali, der soll ich Blumen widmen, das soll mich und meine Familie schützen und Glück bringen. Dann wird mir ein Bändchen um mein Handgelenk gelegt.
Am Kali Tempel |
Zum Abschluss soll ich mich in das „Besucherbuch” eintragen. Name, Herkunftsland und Spendenbetrag soll ich angeben. Ich sehe nur Tausender, Fünftausender und ähnliche Beträge von Touristen eingetragen. Wiederholt erinnert man mich an diese Beträge. Ich trage mich mit 100 Rupien ein. Aber Sir, sehen sie denn nicht was die anderen gespendet haben – ich erwidere dass er die Nullen selbst eintragen kann, da hätte er wohl mehr Erfahrung als ich. Lächelnd und zufrieden verabschiedet sich mein Guide. Wieder ein Touri der etwas abwarf.
Ich laufe barfuss wieder zum Platz, kaufe mir eine Flasche Wasser zum abwaschen der Füsse und trockne diese mit einer Zeitung. Neben mir zündet sich jemand eine Biddhi Zigarette an einem langen dicken Faden an. Die alte Lunte brennt noch hier.
In Khaligat |
Auf der Rückfahrt passieren wir ein grosses, altes Gefängnis mit dicken Mauern. Als wir am Haupteingang des Alipore Prison von AD 1906 fahren, lasse ich den Fahrer anhalten und mache ein paar Fotos vom Haupttor. Als ich dann meinen Fahrer bitte ein Foto von mir vor dem Haupttor zu machen, kommt eine absurde Abordnung auf mich zu mit der Order keine Fotos zu machen.
Drei Polizisten mit Maschinengewehre eskortieren einen Zivilisten dem ein vierter Polizist mit einem aufgespannten Regenschirm über dem Kopf hinterherläuft um ihn vor der Sonne zu schützen.
Als er näher kommt und neugierig vor mir stehen bleibt, stellt er sich als Stellvertretender Direktor des Gefängnisses vor. Ich stelle mich als LH Crew vor und er strahlt ; seine Tochter sei gerade bei SAP in Germany für ein vierwöchiges Training. Er erzählt mir dass das Gefängnis an die 2500 Insassen beherbergt, alles böse Leute. Ich zeige ihm ein Foto einer B-747 und erzähle ihm dass dies das Gefängnis sei das ich temporär leite, 420 Leute, alle bis zu 14-15 Stunden eingesperrt, allerdings freiwillig. Wir lachen. So stehen wir vor dem Gefängnistor das sich langsam öffnet. Ein Touri in Shorts, sein livrierter Fahrer in Weiss, die Polizisten, der Zivilist und der Regenschirmträger. Muss ziemlich absurd ausgeschaut haben. Der Direktor verabschiedet sich viermal von mir während im Innenhof eine Garde in Paradestellung sich formiert hat und auf seine Abnahme wartet.
Ich merke dass er mir erlauben möchte zu fotografieren, aber ich frage ihn nicht, denn er hätte sein Gesicht vor der Eskorte verloren, nachdem er es mir ja davor verboten hatte. Jetzt ist es zu spät.
Alipore Jail |
Etwa 2 km vor unserem Hotel öffnet der Monsunhimmel wieder seine Schleusen. Ich habe Glück gehabt.
Bei Tandori Chicken und frischer Mango lasse ich die Eindrücke Revue passieren.
Ich bin wahrlich fasziniert von der Stadt und dem Erlebnis hier zu sein. Obwohl oft in Indien – ich war zu Besuch in Poona beim Baghwan, in Agra, oft in Bombay und den Märkten, in New Delhi und Bangalore – habe ich hier das Gefühl „mittendrin” zu sein. Genauso faszinierend wie vor über 30 Jahren als ich das erste Mal den Subkontinent besuchte. Irre.
Es gefällt mir ausserordentlich gut und ich werde wieder kommen.
Es waren 2 beeindruckende Tage, eine gute Atmosphäre und ein anderes, lockereres Indien.
So macht mir meine “kurze” Flugzeit viel Spaß.
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